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Der beleidigte Neurologe - Folge 2: der Intellekt im Rollstuhl
Die Gedanken kreisen jetzt... völliges Chaos... es blitzen immer nur kurze Gedankenfragmente im Kopf auf. Eine Art Gedankengewitter. Die Blitze sind Wut, unbändige Wut, die sich Bahn bricht und den Gadankensturm alle paar Sekunden durch ein grell orangerotes Feuer überdeckt.

Ich lege mich hin, das Kreisen im Kopf hört auf, wird aber durch einen Gedankenhagel ersetzt.

Tausende Gedankenbrocken fallen und wirbeln zu Boden, aber du hast keine Chance einen einzelnen Gedanken zu erkennen, du siehst ihn nur als... als Flocke, oder als Behältnis.

Ich werde ruhiger, versuche an nichts zu denken, aber der Kopf will das nicht. Ich stehe inmitten von Gedanken, aber ich kann sie nicht greifen. Ich nehme alle meine Konzentration zusammen und versuche eine Flocke zu greifen. Es geht nicht.

Ich versuche noch ruhiger zu werden. Die Flocken sind nicht mehr klein, sondern sehen aus wie große Kapseln. Wie Medikamentenkapseln, nur viel größer und länger.

Einzelne Worte kann ich erkennen. Mit beidenArmen greife ich eine dieser Gedankenkapseln. Sie ist aber nur zur Hälfte gefüllt, ein Gedanke, der nicht zu Ende gedacht wurde.

Wieder und wieder greife ich zu. Manchmal ist ein vollständiger Gedanke dabei, manchmal aber ist die Kapsel nur mit fadenscheinigen Gas gefüllt, dass sich vor Augen ständig verändert. Selbst ein Gedanke in fremder Sprache wäre schöner, als dieses unfassbare Nichts. Und dazwischen kocht die Wut auf. Wut auf diesen Arzt. Wut auf mich, Wut auf alle. Wieso werde ich wütend, wenn ich im Chaos versinke?

Ich brauche Stabilität, die mir dieser Arzt, der vor siebzig Jahren sicherlich bei der SS eine Karriere gemacht hätte, genommen hat. Ja, ich greife den Mann an, ich vergleiche ihn mit einem SS-Arzt und gebe ihm die Schuld an meiner Situation. An meinem jetzigen Absturz. Bin ich ungerecht? Ist er gerecht?

Ich bin aber hilflos! Hilflose Wut. Die Brust ist zugeschnürt, der Atem geht stossweise, selbst nach nunmehr vier Stunden. Gleichzeitig ist aber da diese Wut, die hinter dem Brustbein unerträglich drückt.

Im Magen dazu das Gefühl eines freien Falles und der Drang aufzustehen, etwas kaputt zu machen oder auch nur gegen die Wand zu schlagen. Aber die gleichzeitige Unfähigkeit dem Körper kontrollieren zu können, ihm den Befehl geben zu können aufzustehen.

So liege ich auf dem Sofa, starre leer in die Luft und lausche meinem abgehakten Atem, während ich warte, dass sich das Adrenalin in meinem Körper abbaut. Die Angst einzuschlafen, in einen traumlosen Schlaf zu fallen und die Sache zuvergessen, ist sehr groß.

Schlafe ich ein, sind diese Gedanken wieder verblasst, wenn nicht sogar verloren. Aber ohne Erinnerung habe ich keine Chance auf eine Heilung!

Ich aber brauche diese Erinnerungen!
Um mich selber zu verstehen!
Um mich, dem Baron von Münchhausen gleich, am eigenem Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen!

Den Geist mit Schmerzen zu formen. Der Versuch den Intellekt zu zwingen seinen angestammten Platz wieder einzunehmen. Mit Gewalt, wenn es sein muss!

Und dann wieder die völlige Erschöpfung, nachdem dies nicht vollständig geglückt ist.

Und wieder rutscht der Verstand ein wenig zurück von dem Platz, an den ich ihn zu wuchten versuchte. Ich habe nicht mehr die Kraft ihn zu halten.

Der Geist siegt über das Fleisch, sagt man. Nur ich versuche den Willen über den Geist siegen zu lassen. Dabei ohne zu beachten, dass die beiden eng miteinander zu tun haben. Ist der Geist verdreht im Kopf, so findet auch der Wille kaum einen Hebel um ihn zu richten. So rutscht der Baron wieder ein Stück tiefer in den Sumpf. Zwei Schritte vor, einen zurück. So geht es unentwegt.

Auf eine gute Phase - ich spreche hier von Stunden - folgt wieder der Absturz in die Lethargie und Verzeweiflung. Das ist schon in Ordnung, wenn dies durch eigene Arbeit am Konstrukt des Geistes geschieht, ist für mich aber völlig inakzeptabel, wenn man - wie von diesem Neurologen - in einen Abgrund gestossen wird.

"Nicht behindert zu sein, ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk, welches uns jederzeit genommen werden kann."

Dies möchte ich auf jedwede Krankheit erweitern.

Manchmal, wenn man nachts im Bett liegt, und dunkle Gedanken hat, die wohl nur in diesem eigenartigen, abgeschirmten Kokon der Bettdecke, die man sich über den Kopf gezogen hat entstehen, wünscht man seinen "Feinden" die "Pest an den Hals".

Am nächsten Morgen bereut man diese Gedanken meist wieder.

Auch wenn ich aktuell nicht über dieses Problem schlafen konnte, so wünsche ich mir doch von ganzem Herzen dieserm Neurologen meinen Zustand im Kopf.

Nur so ein bisschen, damit er mal weiss, wie sich das anfühlt, wenn einem der Intellekt verlässt und das Gehirn nicht mehr laufen kann. Wenn es in einen Rollstuhl aus Phamazeutika sitzt und ein Neurologe vom grünen Behandlungstisch weg den Vorschlag unterbreitet, doch diese große Treppe hochzulaufen.
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